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Das Ende des Blindflugs?

Das Ende des Blindflugs?. Erste Überlegungen, um eine Traumafolgestörung bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung erkennen zu können. Ulrich Elbing Birgit Mayer. Einblicke in Fallbeispiele aus dem Tilia.

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Das Ende des Blindflugs?

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  1. Das Ende des Blindflugs? Erste Überlegungen, um eine Traumafolgestörung bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung erkennen zu können. Ulrich Elbing Birgit Mayer

  2. Einblicke in Fallbeispiele aus dem Tilia • „Meine Eltern haben mich auf einem Stuhl fest gebunden und mich halb tot geschlagen“. (Anm. Verfasserin: im Alter von 8 Jahren) • „Mein Bruder hat mich zwei Mal vergewaltigt. Er war 16 Jahre alt. Ich war 9. Er wollte wissen, wie Sex ist“. • „In der Waffe ist eine Kugel, er spielt jetzt Gott, er wird abdrücken, er wird mich umbringen, ich kann nichts tun. Er bringt mich jetzt um!“. „Ich war damals sicher, ich muss sterben.“ • Ich war krank im Tessin und musste ins Spital. Sie haben mir in den Kopf gebohrt. Er war so geschwollen, ich wusste nicht weshalb. Es tat so weh. Ich hatte so sehr Angst. (Anm. Verfasserin: im Alter von 3 oder 4 J.).

  3. „Mein Opa fiel tot um. Ich war dabei. Er hatte sich aufgeregt. Ich war nicht brav. Ich war alleine mit ihm und er war dann tot. Meine Oma sagte, ich war schuld, dass er gestorben ist“. • „Meine Mutter war schizophren. Sie war nie da. Sie war oft in der Klinik. Das erste Mal bei meiner Taufe“. • „Mein Grossvater hat sein Glied in meine Scheide eingeführt. Ich war noch klein“. (Anm. Verfasserin: 7 oder 8 Jahre alt) • „Wir mussten aus der Wohnung raus. Wir hatten kein Geld. Sie haben alle meine Sachen weg geworfen. Mein Autos und meine Legos. Ich hatte nichts mehr. Alles weg“. „Ich hatte oft Hunger. Es gab kein Geld für Essen“. • „Sie haben mich im Heim xxx vergewaltigt. Es war ein Pfleger und 4 Behinderte. Ich konnte mich nicht wehren, ich konnte mich nicht bewegen“.

  4. „Violence induced Mental Disabilities = VIMD“ „Durch Gewalt verursachte geistige Behinderungen“ • J. Oliver prägte den Begriff „Violenceinduced mental handicap“= gewaltinduzierte geistige Behinderung. Misshandlungen im häuslichen Bereich sind verantwortlich für die geistige Behinderung von mehr als 5% der Menschen mit Behinderung (1988, zitiert aus Sinason 2000, S. 90). • Hirnverletzungen, die so schwer sind, dass sie Behinderungen verursachen können, sind zu 64% das Ergebnis von Gewalt. • Sobseyrechnet zu den VIMD auch die „PsychogenicDisabilities“:Die psychologischen Folgen aller Formen von Missbrauch können so mächtig sein, dass sie ebenfalls eine Behinderung verursachen oder verstärken können

  5. Oft begleiten emotionale und körperliche Vernachlässigung den Missbrauch oder die Misshandlung - die Folgen für die Behinderung können so gravierend sein, wie die Gewalttat an und für sich • Diese psychisch bedingten Behinderungen umfassen beeinträchtigte kognitive Hirnfunktionen, Beeinträchtigungen des Lernens und der Kommunikation. (Von Saurma, M., 2006). • Missbrauch kann Verhaltensveränderungen verursachen, die anderen Behinderungen sehr ähneln, z.B. Entwicklungsstörungen, Autismus, Bewegungsstörungen Gefahr des Overshadowing

  6. Bereits 1953 hat Doll unterschieden zwischen den „echt“ Minderbegabten und „Pseudoschwachsinnigen“ deren Intelligenz durch Herkunft und Emotionen blockiert ist • Valerie Sinason, englische Psychoanalytikerin: Betroffene traumatisierte Menschen mit einer Beeinträchtigung vergrößern aus Gründen der Abwehr oft ihre Schwierigkeiten und diese sogenannte „sekundäre Behinderung“ kann gravierender sein, als die primäre Behinderung an und für sich. • Sie beschreibt Fälle, bei denen die geistige Behinderung durch Missbrauch herbeigeführt wurde. „Manchmal entsteht durch das Trauma Behinderung als Abwehr gegen die Erinnerung an körperliche oder sexuelle Misshandlung“. • „Trauma kann Behinderung verursachen (durch sexuellen, physischen, umweltbedingten, politischen und emotionalen Missbrauch), es kann die Erfahrung der Behinderung verstärken und die Behinderung an und für sich kann vom Einzelnen und von dem ihm nahestehenden als traumatisch erlebt werden“

  7. In ihren Einzelfallschilderungen beschreibt sie, wie der IQ eines Betroffenen durch eine Traumatherapie deutlich angestiegen ist und sich auch die Kommunikations-fähigkeitmassiv verbessert hat. • Andere Autoren (Buchanan, A. und Oliver, J., 1977) zeigen ursächliche Zusammenhänge zwischen Missbrauch und Verwahrlosung und Behinderung. • Für mehr als die Hälfte der leichten geistigen Behinderungen und für ca. 30% der schweren geistigen Behinderungen kann keine Ursache gefunden werden (McLaren und Bryson, 1987). • ein Zusammenhang mit VIMD könnte vermutet werden.

  8. Das erleben die Teams: Menschen, die… • …immer aufgeregter werden bis hin zu extremen Eskalationen • …sich leicht und schnell aufregen, sich aber nur schwer beruhigen (lassen) können • …urplötzlich in Panik und sehr aufgeregt (oder wie erstarrt) sind • …plötzlich nicht mehr „richtig da“ sind und sich nur scheinbar unauffällig verhalten • …sich ansatzlos z.T. extrem und gefährlich aggressiv oder autoaggressiv verhalten

  9. Das macht es oft noch schwerer: • Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, die sich nicht oder kaum verbal mitteilen können • Häufig keine klare, verlässliche Informationen über Konfrontation mit möglichen Trauma auslösenden Situationen in der Biografie • Hartnäckiges Unbehagen im Team: „Irgend etwas stimmt nicht… da muss doch was gewesen sein…“ • Häufig grundsätzlich erhöhte Erregung / Anspannung zu beobachten – und manchmal auffälliges Erschlaffen • Extreme Erregungszustände, in denen aggressives, aber auch (massiv) autoaggressives Verhalten auftreten können

  10. Das macht es oft noch schwerer: •  viele Teams sind wie im „Blindflug“ unterwegs •  Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen

  11. Ziele der folgenden Überlegungen: Erste Hinweise für… • differentialdiagnostische Vermutungen durch genaues Beschreiben von Erregungszuständen und damit verbundenem Verhalten • eine hilfreiche Begleitung bei extremen Erregungszuständen • Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Begleitung (differentielle Indikation)

  12. Vorgehen bei den folgenden Überlegungen • Erfahrungen und Beobachtungen mit sehr aufgeregtem Verhalten aus dem Alltag mit der skizzierten Zielgruppe beschreiben und • Wissen über Erregungsverläufe vor allem aus der aktuellen Psychotraumatologie zuordnen • Die Behandlungsempfehlungen aus der Trauma- und Borderline-Therapie mit nicht geistig beeinträchtigen Menschen verbinden mit • Erfahrungen im Umgang mit Personen aus der beschriebenen Zielgruppe

  13. Hohe Erregung und traumabedingte Stressverarbeitungs-Störung

  14. Was genau soll verglichen werden? • Verlaufskonturen sehr hoher / extremer Erregung

  15. Aggressive Eskalation mit Kontrollverlust • Stetig wachsende Anspannung und körperliche Unruhe • Mündet in aggressives Verhalten • Eskalation mit • Verlust der Integration von Wahrnehmung, • Verlust der Verhaltenssteuerung • Mobilisieren enormer Energien • Vermutet wird die Wiederbelebung einer sehr frühen Traumatisierung (Säuglingsalter)

  16. Aggressive Eskalationen mit Kontrollverlust Arousal Eskalation / Kontrollverlust Mittleres Arousal Stressoren Erlebte Sicherheit, Wiederherstellen der Orientierung Zeit Schockstarre

  17. Aggressive Eskalation mit Kontrollverlust • Auslösende / vorausgehende / verstärkende Faktoren: • Reizüberflutung • Überanpassung • Unklares oder ambivalentes Verhalten von Bezugspersonen • Freudige Erregung / Erwartungsspannung • Kritische Situationen häufig identifizierbar • Verhalten: • typische Verhaltensweisen bei erhöhter Erregung, aggressives Verhalten mit Verlust von Kontrolle, Ansprechbarkeit, Schmerzempfinden

  18. Aggressive Eskalation mit Kontrollverlust • Verlauf: Allmähliche Zunahme von Unruhe und Erregung, eruptiver Höhepunkt, allmähliche Erregungsabnahme ggf. mit retrograder Amnesie / Desorientierung •  Auftreten und Verlauf häufig vorhersagbar

  19. Flashbacks und intrusive Erinnerung • Flash Back: • Plötzliche massive körperliche Panikreaktion • Früher in einer Trauma auslösenden Extremsituation real erlebt • Keine bewusste Erinnerung an die Ursprungsszene • Der Körper erinnert sich, das Bewusstsein (noch) nicht)

  20. Flashbacks und intrusive Erinnerung • Intrusive Erinnerung: • Flut (damit auch) bewusster Erinnerungen • Plötzliches und zum Teil völliges Überwältigt werden • Erinnert werden eine oder mehrere mit Trauma verbundene Situationen

  21. Eskalation durch flashbacks oder intrusive Erinnerung Arousal Eskalation / Kontrollverlust Erlebte Sicherheit, Wiederherstellen der Orientierung Mittleres Arousal trigger Zeit Schockstarre

  22. Eskalation durch Flashbacks oder intrusive Erinnerungen • Auslösende / vorausgehende / verstärkende Faktoren („trigger“): • Kenntnis der Trauma-auslösenden Situation kann bei Identifikation der trigger helfen • Trigger dennoch häufig nicht auffindbar (fehlende Sprache und mangelnde biografische Kenntnisse) bzw. nur manchmal und mühsam durch sorgfältige Beobachtung identifizierbar • Kritische Situationen häufig nicht identifizierbar

  23. Eskalation durch Flashbacks oder intrusive Erinnerungen • Verhalten: • Heftige Panik-Reaktion oder Erstarren. • Wenn Aggression, dann als Kampf ums Überleben, entkoppelt vom Hier und Jetzt • Verlauf: Plötzliches Auftreten, stetiges, „fließendes“ Abklingen •  Auftreten nicht oder selten vorhersagbar, Verlauf vorhersagbar, weil nach Beginn stetig

  24. Primäre strukturelle Dissoziation(Steele, Van der Hart, Nijenhuis, 2001; Nijenhuis, 2012) • Nach einem/mehreren schweren Traumata tritt ein anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil (ANP) und ein emotionaler Persönlichkeitsanteil (EP) auf. ANP: Handlungssysteme für die Alltags-funktionen EP: Handlungssysteme für die Verteidigung vor massiver Bedrohung EP Der Überschneidungsbereich ist der gemeinsame Zugang zu Erinnerungen B. Mayer

  25. Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil ANP • Ein ANP passt sich an das Alltagleben an • Ein ANP funktioniert im Alltag, ist aber eher emotional abgeflacht • Ein ANP ist eher gleichgültig und fühlt sich manchmal wie betäubt • … ist nicht so „schwingungsfähig“, wie ein EP. Da ANP mit weniger Emotionen einhergeht, kann ein ANP auch nicht „mitschwingen“ • … vermeidet traumatische Erinnerungen und damit verbundene EPs • Ein ANP hat oft Amnesien für das Trauma • Hat einen höheren Grad an Bewusstsein als EP, aber niederer als bei Gesunden

  26. Emotionaler Persönlichkeitsanteil EP • Entsteht um das Überleben des Individuums in Situationen mit großer körperlicher Bedrohung zu sichern • Ist fixiert auf traumatische Ereignisse • Ist desorientiert in Ort, Zeit und Identität • Ein EP reagiert auf (wahrgenommene) Bedrohungen und bleibt im traumatischen Ereignis befangen • Kann einen niederen Grad an Bewusstsein haben als die ANPs • Verteidigungssysteme (EPs):- Flucht - Verteidigung- Schreckstarre - Unterwerfung- Hypervigilanz (erhöhte Aufmerksamkeit)

  27. Primäre oder einfache Dissoziation Arousal Eskalation / Kontrollverlust Erlebte Sicherheit, Wiederherstellen der Orientierung Mittleres Arousal trigger Zeit Schockstarre

  28. Primäre oder einfache Dissoziation • Auslösende / vorausgehende / verstärkende Faktoren („trigger“): • Kritische Situationen häufig nicht identifizierbar (s.o.) • Verhalten: • Häufig scheinbar angepasst und unauffällig, jedoch: Subtile Hinweise auf fehlenden Kontakt (die Person ist „nicht richtig da“; leicht verzögerte Reaktionen, Verlangsamung…: ANP hat Verhaltenskontrolle). • Inneres Erleben: sehr wahrscheinlich Opfer (EP). In speziellen Fällen tritt aggressives Verhalten als Teil des scheinbar angepassten Verhaltens auf (z.B. Soldat)

  29. Primäre oder einfache Dissoziation • Verlauf: Plötzliches Auftreten, plötzliche oder sehr schnelle „Rückkehr“ (Assoziation): Beendigung bei veränderter, dann als sicher wahrgenommener Situation. Hinterher oft verwirrt, retrograde Amnesie ist möglich •  Auftreten nicht oder selten vorhersagbar, Verlauf vorhersagbar, wenn günstiger Situationswechsel

  30. Sekundäre strukturelle Dissoziationen bei schwereren Trauma-Folgestörungen(Steele, Van der Hart, Nijenhuis, 2001; Nijenhuis, 2012) • Dies geschieht meist bei Kindern, die Traumata erleben. Sie haben noch keine stabile Persönlichkeitsstruktur entwickelt. Wichtige Hirnareale mit Integrations-funktionen, wie Hippocampus und präfrontaler Cortex sind noch nicht ausgereift. • Besonders relevant sind dabei desorganisierte Bindungen: Familienangehörige oder betreuende Personen sind Objekte der Bindung und der Bedrohung ANP z.B. Komplexe PTSD/DESNOS (dissociative Disorder, not otherwise specified) EPUnterwerfung EPKampf EP Einfrieren B. Mayer

  31. Typische Merkmale des Störungsbilder DESNOS (van der Kolk, 2002) • Veränderungen • der Affektregulation und der Impulskontrolle • der Aufmerksamkeit oder des Bewusstseins (Amnesie/ Dissoziation) • der Selbstwahrnehmung (z.B. Schuld, Scham, unverstanden sein) • der sozialen Beziehungen (z.B. Misstrauen, Einnehmen einer Opfer- oder Täterrolle) • der Überzeugungen (Hoffnungslosigkeit, Verlust früherer Überzeugungen) • somatischer Funktionen (Verdauungsstörungen, chronische Schmerzen, Herzbeschwerden, Sexualstörungen, Konversionssymptome)

  32. Wechsel in eine Emotionale Person (EP) Arousal Eskalation / Kontrollverlust Mittleres Arousal trigger Erlebte Sicherheit, Wiederherstellen der Orientierung Zeit Schockstarre

  33. Wechsel in eine Emotionale Person (EP) • Auslösende / vorausgehende / verstärkende Faktoren („trigger“): • Kritische Situationen häufig nicht identifizierbar • Verhalten: • EP übernimmt die Verhaltenskontrolle. Verhalten je nach Funktion / Rolle der EP, jedoch: Subtile Hinweise auf fehlenden Kontakt (die Person ist „nicht richtig da“). • Aggressives Verhalten möglich: EP „Aggressiver Beschützer“ oder EP als Täter-Introjekt (gezieltes, sehr gefährliches Verhalten möglich)

  34. Wechsel in eine Emotionale Person (EP) • Verlauf: Plötzliches Auftreten auch extremer Wechsel, plötzliches oder sehr schnelles Wechseln in eine andere Teilpersönlichkeit. Als sicher wahrgenommene Situation begünstigt Wechsel in nicht aggressive ANP oder EP •  Auftreten nicht oder selten vorhersagbar, Verlauf auch bei günstigem Situationswechsel schwer vorhersagbar

  35. Begleitung aggressiver Eskalationen mit Kontrollverlust • Auslösende Faktoren: • Unterstützung bei aktiver Stressbewältigung • Bei bereits erhöhtem Erregungsniveau: • Situationsgestaltung mit Reiz-Reduzierung • Erregungsabbau mit zyklischer Bewegung • Bei Kontrollverlust: • Herstellen einer Situation, die Schutz und Kontakt ermöglicht • Aufrecht Erhalten des Kontaktes auch bei scheinbar ausbleibender Wahrnehmung / Reaktion durch eine sichere, präsente Bindungsperson

  36. Begleitung aggressiver Eskalationen mit Kontrollverlust • Nach Wiedergewinnen der Kontrolle: • Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der Realität • Herstellen von Bindungssicherheit • Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“): • Nur rechtzeitig vor Einsetzen des Kontrollverlusts sinnvoll • Kann der Eskalation die Spitze nehmen • Bei fachgerechtem Einsatz gute Wirkungswahrscheinlichkeit • Risiko der (Re-) Traumatisierung bei Einsatz während / nach dem Kontrollverlust, dann auch: • Medikation behindert Re-Orientierung

  37. Begleitung bei Flashbacks, intrusiven Erinnerungen und primärer Dissoziation • Trigger und auslösende Situationen: • Wenn bekannt: Vermeiden (z.B. kein Täter-Kontakt) • Bei Auftreten der Symptome: • Herstellen einer Situation, die Schutz und Sicherheit vermittelt (Beenden des Kontakts mit dem trigger) • Kontaktaufnahme und Begleitung durch Schutzperson • CAVE: Menschen mit Borderline-Störung brauchen Kontakt, Menschen mit einer PTSD können sich ggf. auch erst wirklich sicher fühlen, wenn sie alleine an einem sicheren Ort sind. D.h.: Sorgfältiges Ausprobieren und Beobachten • Mit der Schutzperson darf kein Trigger verbunden sein (so weit bekannt; z.B. können das Geschlecht oder die Kleidung der Person ein Trigger sein)

  38. Begleitung bei Flashbacks, intrusiven Erinnerungen und primärer Dissoziation • Nach Wiederherstellung bzw. Abklingen: • Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der Realität • Stabilisierung in sicherer Bindung • Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“): • Vor Auftreten (meist) nicht möglich (Unvorhersagbarkeit der trigger) • Risiko der Retraumatisierung • Medikation behindert Re-Orientierung

  39. Begleitung bei Wechsel in eine Emotionale Person (EP) • Trigger und auslösende Situationen: • Wenn bekannt: Unterstützung beim Abgrenzen und Vermeiden (z.B. kein Täter-Kontakt), ggf. Entlastung von Schuldgefühlen • Oder Schutz geben durch positiv-autoritäres Verordnen / Durchführen der Vermeidung • Bei Auftreten der Symptome: • Situationswechsel und Herstellen einer Situation, die Schutz und Sicherheit vermittelt (Beenden des Kontakts mit dem trigger) • Kontaktaufnahme und Begleitung durch Schutzperson – CAVE s.o. • Mit der Schutzperson darf kein Trigger verbunden sein (s.o.) • Die Schutzperson muss selbst gut geschützt sein und zeigen können: „Ich halte deine aggressiven Anteile aus!“

  40. Begleitung bei Wechsel in eine Emotionale Person (EP) • Nach Wiederherstellung der Alltags-Persönlichkeit: • Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der Realität • Stabilisierung in sicherer Bindung • Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“): • Vor Auftreten (meist) nicht möglich (Unvorhersagbarkeit der trigger) • Risiko der Retraumatisierung • Wirkung unvorhersagbar: Die ANP oder EP unter Medikation muss keineswegs die exekutive EP sein • Medikation behindert Re-Orientierung

  41. Synopse der Begleitung • Auslösende Faktoren (trigger): Aktive Stressbewältigung und Erregungsabbau nur bei stetig anwachsender Erregung möglich und sinnvoll, sonst: Trigger – wenn bekannt – nach Möglichkeit vermeiden • Eskalation: Begleitung durch Bindungsperson bei gewährleistetem Schutz für beide. Bei plötzlicher Eskalation: Erleben von Sicherheit ggf. auch nur alleine möglich. • Nach Wiedergewinnen der Kontrolle: Unterstützung der Orientierung und Verankerung in der Realität. Herstellen von Bindungssicherheit • Medikamentöse Notfall-Intervention („Reserve“): • Nur bei stetig anwachsender Erregung und rechtzeitig vor Einsetzen des Kontrollverlusts mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit wirksam • Risiko der (Re-) Traumatisierung bei Einsatz während / nach dem Kontrollverlust, dann auch: • Medikation behindert Re-Orientierung • Befundlage zu Benzodiazepinen äußerst kritisch

  42. Synopse der Begleitung

  43. Erregungsverläufe im Vergleich Arousal Eskalation / Kontrollverlust Mittleres Arousal Erlebte Sicherheit, Wiederherstellen der Orientierung Trigger Stressor Zeit Schockstarre

  44. Was benötigen die Betroffenen? • In der täglichen Kommunikation: - immer wieder aussprechen, dass die Betroffenen jetzt, hier in Sicherheit sind- auch wenn unklar ist, wie viel der Einzelne/ die Einzelne verstehen kann • Versuchen zu fragen, was die Betroffenen erlebt haben:- Auch Menschen mit Beeinträchtigungen können ihre Erlebnisse erzählen, - dies benötigt manchmal kreative Unterstützung- Auch sie kennen den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit • Wie müssen wir die Fragen stellen? - Sprachlich einfach formulieren, kurze Sätze bilden- Doppelfragen vermeiden- Konkrete Namen benutzen- Mehr Zeit einplanen- Begriffe verwenden, z.B. für Körperteile, die der Gesprächspartner, die Gesprächspartnerin, auch verwendet

  45. „Warum“, „wie“ und „wenn“ Fragen vermeiden • Evtl. zur Unterstützung Anatomie- Puppen verwenden • Interviewer verhält sich bewusst sehr neutral, auch was die Stimmlage oder die Körpersprache anbelangt  Vermeidung sozial erwünschter Antworten • Fehlende Kenntnisse der Betroffenen bzgl. genauer Anschrift dürfen nicht überbewertet werden.Diese sind für Menschen mit Beeinträchtigungen evtl. nicht wichtig/ relevant und ihnen fehlen oft die Informationsgrundlagen • Wird eine Antwort nicht richtig verstanden, ruhig nachfragen „Ich habe das jetzt nicht richtig verstanden. Können Sie mir das noch einmal erklären?“ • Ist die Kommunikation sehr erschwert, möglichst Fragen so stellen, dass mit „Ja“, „Nein“ oder „Ich weiss nicht“ geantwortet werden kann, bzw. auf vorgeschrieben Antwortfelder mit diesen Möglichkeiten gezeigt werden kann

  46. Wie frage ich nach einem Trauma? Einem evtl. Missbrauch? • Je selbstverständlicher wir danach fragen (die entsprechenden Stellen, beispielsweise die Fachdienste), z.B. standardisiert nach einem Neueintritt für alle Bewohnerinnen und Bewohner, um so einfach gelingt es • Aber: Fragen Sie nicht aus heiterem Himmel „Wurden Sie als Kind missbraucht?“ • Fragen nach traumatischen Erlebnissen beginnen idealerweise bei eher „neutralen“ Fragen und werden dann immer spezifischer, also z.B.:

  47. Wie frage ich nach einem Trauma? Einem evtl. Missbrauch? (2) „Wie war ihre Kindheit? Welche Spiele haben Sie gerne gespielt?“… und dann: „Beschreiben Sie bitte die glücklichsten Zeiten in ihrer Kindheit.“ „Beschreiben Sie bitte auch die schwierigen Zeiten in ihrer Kindheit.“ „Wurden Sie bestraft?“ „Wurden Sie als Kind so fest geschlagen, dass Sie blaue Flecken hatten, oder dass Sie zum Arzt mussten?“ „ Wurden Sie als Kind zu sexuellen Handlungen gezwungen, die Sie nicht wollten?“ „Mit wem konnten Sie als Kind reden, wenn es Ihnen schlecht ging?“

  48. Was können wir tun? • In erster Linie muss sich unsere Optik verändern:Reframing: Das Verhalten ist nicht behinderungsbedingt, sondern hat andere Ursachen  es benötigt einen speziellen Umgang mit diesen Verhaltens-weisen • Sicheres, stabiles Lebensumfeld. Schaffung eines „sicheren Ortes“ • Zentral: Beziehungsaufbau/ Bindungsangebot. • Vermeidung von Triggern (Prävention von Re-Traumatisierungen) und Stress-Situationen im Allgemeinen • In der ersten Stabilisierungsphase: Selbstregulationsstrategien aufbauen und immer wieder einüben. Affektwahrnehmung, Selbstberuhigung etc. • Betreuende Mitarbeiter an der Basis sind keine Therapeuten. Aber: ein sicheres Lebensumfeld ist zentraler Ansatzpunkt für weitere Schritte, die Basis für weitere Bewältigung der Traumata

  49. Was benötigen traumatisierten Menschen mit einer Beeinträchtigung? • gute Kooperation mit psychologischen Fachdiensten, die über spezifisches Fachwissen dieser Problematik verfügen • Adaptation bestehender Traumatherapiemethoden für Menschen mit Beeinträchtigungen • Anwendung dieser Methoden in der Praxis • entsprechende evidenzbasierte Forschung, d.h. auch Kooperationen mit Hochschulen oder Ausbildungsinstituten für unterschiedliche Psychotherapiemethoden • qualifizierte Trauma-Therapiestationen in den psychiatrischen Versorgungskliniken mit Spezialwissen im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen • entsprechendes Know-how auch in den Akutstationen

  50. Was benötigen traumatisierten Menschen mit einer Beeinträchtigung? • qualifizierte Fallberatungen und Teamsupervisionen in den Einrichtungen • Annäherung der unterschiedlichen Bereiche • Funktionierende, interdisziplinäre Kooperationsformen aller beteiligten Disziplinen in Augenhöhe • Konsequente Aus- und Weiterbildung der - Verantwortlichen in den Institutionen- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „an der Basis“ - der Psychologinnen und Psychologen in Heimen, Kliniken oder in der Praxis- Psychiaterinnen und Psychiater in Heimen, Kliniken oder in der Praxis

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