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Das genetische Prinzip

Das genetische Prinzip. Beiträge von Martin Wagenschein, Hans Freudenthal und Alexander Wittenberg zur Didaktik der Mathematik. M. Wagenschein (1896-1988). H. Freudenthal (1905-1990). I. Wittenberg (1926-65). Inhalt. „echte“ bzw. „realistische“ Mathematik nach Wittenberg und Freudenthal

marcel
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Das genetische Prinzip

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Presentation Transcript


  1. Das genetische Prinzip Beiträge von Martin Wagenschein, Hans Freudenthal und Alexander Wittenberg zur Didaktik der Mathematik M. Wagenschein (1896-1988) H. Freudenthal (1905-1990) • I. Wittenberg • (1926-65)

  2. Inhalt • „echte“ bzw. „realistische“ Mathematik nach Wittenberg und Freudenthal • Zur Genese des genetischen Prinzips • Das Genetische Prinzip bei Wagenschein • Ein Unterrichtsbeispiel von Wagenschein (Der 6-Stern) • Zusammenfassung • Schlussbemerkung ™

  3. vorläufige Arbeitsdefinition: • „genetisch“ von γίνομαί (ginomai): werden, entstehen, geboren werden • die „genetische Methode“ geht dem Entstehen nach; das Lehren soll am Entstehen ausgerichtet werden

  4. Wittenbergs Vorstellung von „echtem“ Mathematikunterricht: „Mathematik-Unterricht ist „echt“ in dem Maße, in dem er dem Schüler am Elementaren den vollen Umfang mathematischen Denkens erschließt (…)“ – vom Eindringen in nahe liegende Probleme – heuristische Auseinandersetzung – Schaffung angemessenen Vorgehens und adäquater Begriffe, –„bis zum verhältnismäßig abgerundeten Überblick einer verhältnismäßig systematischen Theorie“ – weiterführende Fragen (Wittenberg 1990: S.64)

  5. „realistische mathematische Erziehung“ nach Freudenthal ``Was dem erwachsenen Mathematiker recht ist - seine eigenen Begriffe zu erfinden und die anderer nachzuerfinden, Mathematik nicht als einen Sachbestand, sondern als Tätigkeit zu üben, ein Feld zu erkunden, Fehler zu machen und von seinen Fehlern zu lernen - das soll dem Lernenden von Kindesbeinen an billig sein.'' (aus „Mathematik als pädagogische Aufgabe“)

  6. Historische Vorläufer: "Der Weg zum Verständnis eines verwickelten Produktes führt durch das Studium seines Werdeganges...  Indem wir es im Werden studieren, wird manches unserem Verständnis zugänglich, das heute zu verwickelt ist, um unmittelbar erfasst zu werden". Dabei ist der Ausgangspunkt "stets irgendeine gegenwärtige Sachlage mit ihren Problemen". (John Dewey, 1915)  „Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen.“ Goethe an Zelter, 1803

  7. Varianten des genetischen Prinzips: Historisch genetisch: Vollzieht die historische Entwicklung des Gegenstandes nach. Gegenstand im Mittelpunkt Psychologisch-genetisch: Entwicklung des Kindes im Mittelpunkt

  8. Eine interessante ideengeschichtliche Wurzel des historisch-genetischen Prinzips: Das biogenetische Grundgesetz (1866) des Biologen Ernst HAECKEL, wonach der einzelne Mensch in seiner Entwicklung diejenigen Stufen durchlaufen muss, welche die gesamte Menschheit im Lauf der Geschichte zurückgelegt hat. "Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis.“

  9. Das historisch-genetische Prinzip in der Mathematikdidaktik: „Dieses Grundgesetz, denke ich, sollte auch der mathematische Unterricht, wie jeder Unterricht überhaupt, wenigstens im allgemeinen befolgen: er sollte, an die natürlicheVeranlagung der Jugend anknüpfend, sie langsam auf demselben Wege zu höheren Dingen und schließlich auch zu abstrakten Formulierungen führen, auf dem sich die ganzeMenschheit aus ihrem naiven Urzustand zur höheren Erkenntnis emporgerungen hat.“ Felix Klein (1849-1925)

  10. Kritik am historisch-genetischen Prinzip: „Wir sollten doch gerade aus der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft lernen, die von früheren Generationen begangenen Schlussfehler oder Unzulänglichkeiten zu vermeiden [...] Jeder einzelne durchläuft im wesentlichen denselben Entwicklungsgang wie die Wissenschaft selbst, solange ihm kein besserer Weg gezeigt wird. Ist aber ein solcher besserer Weg vorhanden, so ist es gerade die Pflicht und Aufgabe des Lehrenden, ihm denselben nicht nur zu weisen, sondern auch gangbar zu machen“ Alfred Pringsheim (1898)

  11. Modifikation des historisch-genetischen Prinzips: „Der Lehrer „selbst könnte für sich selbst aus solcher historischen Analyse lernen, was der eigentliche Sinn, der Kern jedes Begriffes ist, und könnte daraus Folgerungen für das Lehren diese Begriffes selber ziehen, (…) Nicht um die Geschichte handelt es sich, sondern um die Genesis der Probleme, der Tatsachen und Beweise, um die entscheidenden Wendepunkte in dieser Genesis.“ Otto Toeplitz (1881-1940) „Genesis ist nicht Geschichte!“ Martin Wagenschein

  12. Das psychologisch-genetische Prinzip: „Die zentrale Aussage der psychologisch genetischen Denkrichtung ist, dass es nicht die Aufgabe der Lehrenden ist, den Stoff an die Kinder, sondern zwischen dem Stoff und den Kindern zu vermitteln.“ aus „Mathematikgeschichte und Mathematikunterricht“, A. Vohns „(…) das Tun des Schülers ist nicht mehr auf Empfangen eingestellt, sondern auf Erarbeiten. Nicht Leitung und Rezeptivität, sondern Organisation und Aktivität ist es, was das Lehrverfahren der Zukunft kennzeichnet“ Johannes Kühnel, 1922

  13. Merkmale eines genetischen Unterrichts: „Neben historisch-genetischen Elementen werden heute als konstitutiv für genetischen Unterricht angesehen:“ (Vohns) • der Anschluss an das Vorverständnis der Schüler/innen, • die Einbettung von mathematischen Problemen in größere inner- und außermathematische Problemkontexte • die Zulässigkeit einer informellen Einführung von Begriffen aus dem Kontext heraus • die Hinführung zu strengeren Überlegungen über intuitive und heuristische Ansätze • während des Voranschreitens allmähliche Erweiterungen des Gesichtskreises und entsprechende Standpunktverlagerungen.

  14. Zum genetischen Prinzip nach Wagenschein: genetisch: „Pädagogik hat mit dem werdenden Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm zu tun.“ sokratisch: „Das Erwachen geistiger Kräfte vollzieht sich am wirksamsten im Gespräch.“ exemplarisch: „Das genetisch-sokratisches Verfahren kann (und muss) sich auf exemplarische Themenkreise beschränken.“ (Wagenschein II, 1970 S. 68)

  15. Anwendung des genetischen Prinzips bei der „Entdeckung der Axiomatik“ (bzw. „Der Sechs-Stern“) „Dabei braucht nicht der Lehrer der Antreiber zu sein, der den Fluss des Verstehens-Prozesses in Gang hält. Er kann sich den Ufern vergleichen, zwischen denen jener Fluss seinen Weg sucht, bewegt allein vom Problem.“ „Eine Entdeckung wird am wirksamsten durch ihren nicht-rezeptiven Nachvollzug verstanden und behalten; durch eine, sei es auch nur bescheidene „Wiederentdeckung“. So definieren Freudenthal und Wittenberg unabhängig voneinander das genetische Prinzip.“ Nicht der Lehrer soll das Problem stellen, sondern das Problem sich selbst!

  16. Frage: Kann der Radius des Kreises genau 6-mal am Umfang abgetragen werden?

  17. Regeln: • Regel I: Benutze nur das, was wir in die Figur eingebracht haben (das „Gegebene“), das aber vollständig. Sonst benutze nichts außer dem Selbstverständlichen. • Regel II: Alles Eingebrachte sollte sichtbar sein.

  18. Regel III: Können wir die Figur vereinfachen, indem wir Überflüssiges wegwischen?

  19. Regel IIIa Nach jeder Vereinfachung der Figur ist das ursprüngliche Problem neu zu formulieren, und es ist zu prüfen, ob es unverkürzt dasselbe geblieben ist. Frage: Lassen sich 6 gleichseitige Dreiecke lückenlos „rundum zusammenschieben“?

  20. Kann Regel III („Können wir die Figur vereinfachen, indem wir Überflüssiges wegwischen?“) noch mal angewendet werden? Frage: Wenn zwei unserer Dreiecke an eine Gerade angelegt sind, passt dann ein drittes in die Lücke? Die Betrachtung der halben Figur reicht! Wie lautet Nach IIIa jetzt unser Problem?

  21. Jetzt braucht es einen Einfall! Die beiden Dreiecke I und II gehen durch Verschieben um die Seitenlänge r auseinander vor. Deshalb haben alle (gleichen) Punkte von I und II diesen Abstand. Auch die beiden Spitzen. Das Dreieck passt also genau!

  22. „Es ist unbedingt notwendig, hier zu verweilen, und die Gruppe nun sich darüber aussprechen und klar werden zu lassen, was eigentlich geschehen ist. Sind wir fertig? Ist es nun sicher, (dass „es sechsmal geht“)? Die Frage liegt schon weit zurück. Man muss den ganzen Weg noch einmal durchlaufen, hin und zurück: Die Parallelverschiebung geht immer. Sie ist selbstverständlich. Deshalb passt das dritte Dreieck zwischen die beiden anderen, wie wir sahen. Deshalb sitzen drei Dreiecke fugenlos aneinander auf der Geraden. Deshalb kann man eine ebensolche Gruppe von der anderen Seite der Geraden heranschieben. Das Sechseck, das fugenlose, ist fertig. Durch seine Ecken führt ein Kreis. Sein Radius ist genau sechsmal in seiner Peripherie herumgespannt. Etwas ganz und gar nicht Selbstverständliches (dass es „genau 6 mal geht“ ist damit „zurückgeführt“ auf etwas ganz Selbstverständliches. Es „kommt von ihm“ her. Es „hängt“ allein von ihm „ab“, „geht aus ihm“ ohne Zutat „hervor“. Ist also gleichsam dasselbe. Es „muss“ so sein. Damit ist es nicht mehr seltsam.“ „Um das zugrunde Liegende auf seine Selbstverständlichkeit noch einmal genau zu prüfen, ist es nötig, es scharf zu formulieren. Das macht große Mühe und ist ein interessanter Teil des Gesprächs. Am Ende wird etwa folgendes dastehen:“

  23. „Es ist immer möglich, in der Ebene ein Dreieck, ja jede Figur, so zu bewegen, dass seine Punkte Spuren zurücklegen, die alle 1. gerade, 2. gleich lang, 3. parallel sind. (Was „Ebene“, was „parallel“, was „gerade“ bedeutet, ist zunächst kein Problem). Man kann dieses „Translations-Axiom“ sofort für den Raum verallgemeinern: „Es ist immer möglich, einen Körper so zu bewegen, dass…“

  24. Andere Anwendungen des „Translationsaxioms“:

  25. Zur sokratischen Methode „Der Lehrer fragt nicht, noch antwortet er. Sein Beistand ist nicht fachspezifisch und beschränkt sich auf Anmerkungen folgender Art:“ Wissen Sie noch, was Sie eben gesagt haben? Was meinen Sie mit Ihren Worten? Wer hat zugehört? - Wer hat verstanden, was eben gesagt worden ist? Von welcher Frage sprechen wir eigentlich? Was wollten wir eigentlich? Wie weit sind wir? „Entscheidend ist, dass diese Anmerkungen den Gedankengang nicht drängen, sondern im Gegenteil stauen. Also nicht ungeduldig (Blick auf die Uhr): „Noch eine Frage?“ sondern nachdenklich: „Ich kann mir nicht denken, dass alle ja dazu sagen.“

  26. Zusammenfassung • Ein „genetischer Unterricht“ will den Schülern das (Nach-)entdecken von Mathematik ermöglichen • Er betont Mathematik als Tätigkeit – und nicht als Produkt • Idealerweise gibt der Lehrer nicht nur keine Antworten/Lösungen… …sondern er stellt noch nicht einmal die Fragen!

  27. Zusammenfassung II • es werden „tote Sachverhalte“ in lebendige Handlungen zurückverwandelt: z.B.: Gegenstände in Erfindungen, Werke in Schöpfungen, Lösungen in Aufgaben etc. • Dazu braucht man: Zeit, kleine Klassen, Epochenunterricht…

  28. Und weil das alles so frustrierend ist, hier noch eine kleine praktische Anregung: „Als ich Schulkind war, hat es mich sehr befremdet, wenn da eine Figur gezeichnet war, und ehe es überhaupt losging, hat der die bepflastert mit a, A, b, B; erschien mir, wie wenn man eine Landschaft ansieht, die plötzlich vom Militär besetzt wird. Es kommt darauf an, wovon man ausgeht, von dem was zuerst oder von dem was zuletzt da ist.“ M. Wagenschein (aus: Wagenschein Seminar 85/86 http://www.martin-wagenschein.de/Archiv/Ws-85-86.htm)

  29. Literatur • Führer, L., „Wurzeln, Mathematik und Nostalgie - Bedenkliches zum mathematischen Wagenschein“ Vortrag zur Wagenschein-Gedächtniswoche, am 2.12.96 in Frankfurt am Main • Klein, F. 1911: Elementarmathematik vom höheren Standpunkte, 3 Bände. • Vohns, A, „Mathematikgeschichte und Mathematikunterricht“, Referat im Rahmen des Seminars „Geschichte der Algebra“ • Wagenschein, M., Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken, I, II, Stuttgart (Klett) 1970 • Wittenberg, A.I. 19902: Bildung und Mathematik. Stuttgart.

  30. Anhang: Unterrichtsbeispiele von Wagenschein: • Kern und Schale runder Dinge, 1948 • Zweierlei Wissen (Pi bei der Mondsphäre), 1948 • Nicht-Abbrechen der Primzahlenreihe, 1949 • Mathematische Jahresarbeiten und Aufsätze, 1950, • Irrationalität der Quadratwurzel aus Zwei, 1950 • Satz des Pythagoras, 1960 • Mathematik aus der Erde (Eratosthenes), 1961 • Wie weit ist der Mond von uns entfernt? 1962 • Die Erfahrung des Erdballs (u.a. Aristarch), 1967 • Entdeckung der Axiomatik, 1968, 1974 Weniger ausführlich: • Kegelschnitte, komplexe Zahlen, Grenzwerte, Irrationalzahlen, Infinitesimalrechnung, Kegel, Kugel, Zylinder, Kugelgeometrie, Logarithmen, Trigonometrie

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